Ernst Leitz II - Die risikovolle Entscheidung zur Serienfertigung der Leica und Einführung eines fotografischen Systems

Für den führenden Mikroskophersteller Leitz gab es große Risiken, als er 1924 mit einer Kleinbildkamera einen neuen Markt für die Fotografie erschließen wollte. Kühn-Leitz berichtete über die Enteignung der drei wichtigsten Auslandsniederlassungen von Leitz im Ersten Weltkrieg und die besonders schwierige Situation nach der Hyperinflation, in der nach dem Verlust aller Geldvermögen den Kunden die Kaufkraft fehlte. Die Leica war für die Zielgruppe der anspruchsvollen Fotoamateure sehr teuer: sie kostete mit dem notwendigem Zubehör 420 neue Rentenmark. Das waren mehr als vier Monatslöhne eines gutbezahlten Facharbeiters.

Auch die für Leitz neue Herstellung von Kameras in einer Art Manufaktur mit hohen Arbeitskosten stellte ein weiteres Risiko dar. Ein Mikroskop hatte ohne Optik ungefähr ein Dutzend größere Teile, das neue Kameragehäuse dagegen 190 Kleinteile. Für ihre Produktion musste eine neue Fertigung eingerichtet werden, zu der anfangs viele Werkzeugmaschinen fehlten und erst noch entwickelt werden mussten. Auch der verwendete Kinofilm zur Projektion auf großen Leinwänden war aufgrund seiner unzureichenden Lichtempfindlichkeit und seines störenden Korns - das der Zuschauer im Kino wegen des schnellen Bildwechsels nicht wahrnehmen konnte - nur sehr begrenzt für die Stehbildkamera mit der Leica geeignet. Die großen Firmen der Fotochemie verdienten sehr gut an der Herstellung von Millionen Meter Aufnahmematerial pro Jahr für die Filmstudios in Hollywood und Babelsberg und waren Mitte der 1920er Jahre nicht daran interessiert, diese Filme für die neue Kleinbildfotografie zur Vergrößerung Briefmarken großer Negative auf Fotopapier entscheidend zu verbessern.

Dem Fotohandel war in seiner angespannten finanziellen Lage die Leica zu teuer. Er lehnte auch die neue umständliche Vergrößerungstechnik ab. Er wollte weiter mit der Herstellung von Kontaktkopien von größeren Negativformaten gutes Geld verdienen. Das Entwickeln und Vergrößern der belichteten Filme sollte den neuen Leica-Besitzern überlassen bleiben. Aber wie viele würden das sein?

Trotz dieser Risiken entschied Ernst Leitz nach einer dreieinhalbstündigen Sitzung mit seinen engsten Mitarbeitern, die leichte, kleine Leitz-Camera mit Tageslichtpatrone, Entwicklungstrommel, Vergrößerungsapparat und Projektor in Serie zu fertigen. Es war in der Tat ein Ritt über den Bodensee. Rückblickend sagte Ernst Leitz, das Schönste, was ihm mit seiner damaligen Entscheidung geschenkt worden war, sei die Möglichkeit gewesen, vielen Menschen Arbeit und Brot zu geben.

Einführung eines fotografischen Systems

Einführung eines neuen fotografischen Systems


Versetzen wir uns in das Jahr 1924. Ernst Leitz war damals seit vier Jahren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der Optischen Werke Ernst Leitz in Wetzlar. In Deutschland herrschte Depression mit einem Millionenheer von Arbeitslosen. Die Reparationsforderungen der Alliierten nach Ende des Ersten Weltkriegs hatten die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Deutschen Reichs bei weitem überschritten. Die Folge war eine anhaltende wirtschaftliche Krise und politische Instabilität. Die Weimarer Republik war auf Grund der viel zu hohen Staatsverschuldung zahlungsunfähig geworden. Die Regierung versuchte ver­geblich, das Problem mit der Notenpresse zu lösen. Die Hyperinflation und die darauffolgende Währungsreform hatten die Geldvermögen und damit den Wohl­stand vernichtet. Ausgerechnet in diesem wirtschaftlich so schweren Jahr entschied Ernst Leitz die Serienfertigung der von dem genialen Konstrukteur Oskar Barnack entwickelten Kleinfilmkamera. Professor Max Berek, Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung und Freund Barnacks, hatte dazu das Objektiv ELMAX mit einer Brennweite von 50 mm und einer Lichtstärke von 1:3,5 gerechnet. 

Leica

Die LEICA I wurde 1925 auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt

Leitz war bis dahin ein weltbekannter Hersteller von Mikroskopen und hatte bei Medizinern, Biologen und Mineralogen einen ausgezeichneten Ruf. Die Mikrosko­pe, in kleinen Serien gefertigt, wurden über ein weltweites Vertreternetz durch fachlich qualifizierte Mitarbeiter verkauft.

Eine Kamera aus dem Hause Leitz sollte aber einen ganz anderen Abnehmerkreis ansprechen. Auf Markterfahrung konnte das Unternehmen nicht zurückgreifen, denn es gab keinen Markt für Kameras mit dem unüblich kleinen Aufnahmeformat auf 35 Millimeter breitem Kino-Normalfilm. Leitz hatte weder Erfahrungen in der Groß­serien­fer­tigung noch einen Vertriebsweg mit einer für die Marktabdeckung ausreichenden Zahl geschulter Fotohändler. Es gab auch keinen für die Stehbildfotografie aus­gereiften und in Filmpatronen konfektionierten Film. Der von Barnack für die Stehbild­fotografie eingesetzte Kinofilm war grobkörnig und hatte nur eine geringe Film­empfindlichkeit. Es gab auch keine Vergrößerungsgeräte und keine Kleinbildprojektoren. 1924 musste also nicht nur über die Serienfertigung einer Kamera, sondern auch­ über die Entwicklung eines ganzen Systems entschieden werden. Geldmittel in Millionenhöhe für Investitionen in Gebäude, Maschinen, Werkzeuge und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze mussten zur Aufnahme der Serienfertigung bereit gestellt werden.

Es erschien 1924 besonders fraglich, wie die Berufsfotografen als Meinungs­bild­ner mit ihren großen und schweren Plattenkameras (diese konnten einschließlich Sta­tiv und Glasplatten ein Gewicht von bis zu 8 Kilogramm haben) auf eine Roll­film­­kamera mit einem derart kleinen Format reagieren würden. Mit Modellen aus der O-Serie wurden die Marktchancen für die neuartige Kleinfilm­kamera getestet. Das Ergebnis war entmutigend. Die kleine Kamera würden weder die Amateure noch die Berufsfotografen akzeptieren:

Viele Amateure konn­ten sich nicht vorstellen, wie man mit einem Negativ von nur 24 x 36 Millimeter Bilder im Format von 30 x 40 Zentimeter und mehr herstellen kann. Sie fragten, ob man mit dieser kleinen Kamera auch eine ganze Kuhherde fotografieren könne. Sie würden große Probleme haben, einen 1,60 m langen Film in die Kamera einzu­legen. Und wie sollte ein so langer Film überhaupt entwickelt werden können?

Auch die Berufsfotografen mit ihren Plattenkameras für das Großformat argumen­tierten gegen die Kleinfilmkamera. Die Brennweite sei viel zu kurz. Details würden bei einer Vergrößerung nicht zu erkennen sein. Sollte diese Kamera dennoch auf den Markt kommen, würde sie nur eine Mode­erschei­nung bleiben, die ebenso schnell verschwindet  wie sie gekommen ist.

Angesichts dieser Kritik war das Risiko des Scheiterns sehr groß. Bei einem Fehlschlag hätte Leitz nicht nur viel Geld verloren, sondern auch seinen guten Ruf

als weltweit anerkannter Mikroskophersteller aufs Spiel gesetzt und bestehende Arbeitsplätze gefährdet. Ernst Leitz handelte bei seiner Entscheidung gegen den Rat der meisten seiner engsten Mitarbeiter und verteidigte die Aufnahme der Produktion der Leica angesichts aller erkennbaren Risiken mit den Worten: „Hier handelt es sich nicht um unseren Verdienst. Hier handelt es sich um die Möglichkeit, unseren Arbeitern mit dieser kleinen Kamera – wenn sie hält, was ich mir von ihr verspreche - in den Jahren der Depression Arbeit zu beschaffen und sie damit durch die kommende schwere Zeit hindurchzubringen.“ Für ihn standen also bei seiner mutigen Entscheidung insbesondere soziale Aspekte im Vordergrund.

Gott sei Dank hielt die Kamera, was sich Ernst Leitz von ihr versprach. Sie ermöglichte nicht nur den Aufbau des später bedeutendsten Geschäftszweigs der Firma Leitz. Das Leica Format wurde zur anerkannten Norm und bestimmte die weltweite Entwicklung der fototechnischen und fotochemischen Industrie über ein dreiviertel Jahrhundert bis zum Beginn des Digitalzeitalters. Millionen von Kleinbild-Kameras und Abermillionen von Filmpackungen wurden jährlich für dieses Format hergestellt. Bis es aber soweit war, musste Leitz erhebliche innovatorische Anstrengungen unternehmen. Gerade in den Anfangsjahren zeigte sich sein unternehmerisches Talent, die richtigen Leute an der richtigen Stelle einzusetzen. Er verstand es immer wieder, seinen Mitarbeitern bei Rückschlägen mit dem ihm eigenen Optimismus Mut zu machen.

Die Leica begründete schon in ihren ersten Jahren eine neue Ära der Fotografie. Die kleine, leichte Kamera mit nur 500 g Gewicht (Sie erinnern sich: Manche Plattenkamera mit Stativ und Glasplatten wog bis zu 8 kg) erlaubte es, das Leben unbemerkt zu fotografieren. Sie brachte zudem eine neue Dynamik, denn mit ihr konnten 36 Aufnahmen in Folge gemacht werden. Die leichte Handhabung interessierte zunehmend Fotoamateure, die zuerst äußerst zurückhaltend waren. Mit der Leica und ihren Wechselobjektiven wurde es auf einmal möglich, Bilder mit einem Teleobjektiv auch aus der Distanz von nie gekannter Lebendigkeit festzuhalten.

An die Stelle statischer Aufnahmen mit einer Platten­kamera traten die dynamischen Bilder mit der Leica. Mit ihr gelang es erstmals, den unwiederbringlichen Augenblick einzufangen. Sie legte so den Grundstein zur dynamischen Live Fotografie und damit zum modernen Foto­jour­na­lis­mus. Neue Illustrierte Zeitschriften entstanden, in denen die Bildberichterstattung im Vordergrund stand. Die Entscheidung von Ernst Leitz, die Leica in Serie zu fertigen, veränderte die Welt der Fotografie und hat sich rückblickend als eine Kulturtat erwiesen.