Ernst Leitz II - Ein Unternehmer mit Zivilcourage

Ernst Leitz hat während der Alptraumjahre zwischen 1933 und 1945 vielen jüdischen Bürgern die Flucht, insbesondere in die Vereinigten Staaten und nach England ermöglicht. Seine Hilfe war bestimmt durch das persönliche Verant­wortungs­­gefühl eines Mannes nicht nur gegenüber seinen Angestellten und deren Familien, sondern auch vielen anderen Bürgern, ungeachtet ihrer Religion oder Weltanschauung. Er konnte es nicht ertragen, wenn Mitmenschen  unter dem erbarmungslosen Regime  zu leiden hatten.  Er hat  über seine Hilfsaktionen nicht gesprochen. Er handelte nach dem Grundsatz „Tue Gutes und sprich nicht darüber“. Erst der in England lebende Rabbiner Frank Dabba Smith hat durch jahrelange Recherchen in Archiven und in Interviews mit Zeitzeugen über 80 rassisch oder politisch Verfolgte nachgewiesen, denen Ernst Leitz geholfen hat.

Auf Grundlage aktuellen Forschungsergebnisse können 78 Personen, denen Ernst Leitz wertvolle Hilfe geleistet oder ihr Leben gerettet hat, davon 59, aus rassischen Gründen verfolgt worden sind, identifiziert werden

In welcher Weise und in welchem Ausmaß hat  er geholfen? Viele Juden konnten bei ihm auch noch nach 1933 eine Ausbildung absolvieren. Er vermittelte Anstellungen bei den Tochtergesellschaften in New York oder London. Er bezahlte Schiffspassagen nach New York. Er half bei der Beschaffung der Einreisevisa für die USA. Er gab Lieferaufträge an Wetzlarer Geschäfte mit jüdischen Inhabern. Er stellte auch nach 1938 „halbjüdische“ Mitarbeiter ein. Nicht zuletzt setzte er sich intensiv für die Befreiung inhaftierter politisch Verfolgter ein.

Nora Schindler, die Tochter des berühmten Dirigenten Arthur Nikisch, die mit ihrem jüdischen Ehemann Ewald Schindler Deutschland verlassen musste, schrieb in einem Brief an Ernst Leitz 1946 aus den USA:

Alle die vergangenen Jahre haben wir immer mit Liebe an Dich gedacht. Du weißt, dass wir niemals vergessen werden, dass Deine Liebe und Hilfsbereitschaft uns das Leben gerettet haben. Mein Gott, wenn ich daran denke, wie ich damals aus Italien an Dich um Hilfe schrieb und Du uns die ganzen schweren Jahre dort niemals verlassen hast!“

Auch Stefan Rosenbauer, der 1939 mit seiner jüdischen Ehefrau nach Brasilien auswandern konnte, drückte Ernst Leitz nach dem Krieg in einem Brief  seinen Dank für die geleistete Hilfe aus: „Ich weiß, dass Sie auch vielen anderen noch die Möglichkeit gaben, aus Deutschland zu entkommen. Die Gewissheit, so viele Menschen vor dem Tod und den Quälereien durch Ihr mutiges und tapferes Verhalten gerettet zu haben, darf Sie mit stolzer Befriedigung erfüllen.

Wer damals wie Ernst Leitz bereit war, mit umfangreicher Hilfe für Juden gegen die nationals­ozialistische Doktrin zu opponieren, hat große Zivilcourage bewiesen. Es ist bekannt, daß sich von den deutschen Industriellen, neben Ernst Leitz nur Robert Bosch so verhalten hat.

Das Buch " Ernst Leitz - Wegbereiter der Leica " hat den Untertitel "Ein vorbildlicher Unternehmer und mutiger Demokrat". Damit stellt sich die Frage, ob Ernst Leitz auch heute noch ein vorbildlicher Unternehmer wäre. Obwohl die heutige Sozialgesetzgebung die Bedürfnisse der Mitarbeiter weitgehend berücksichtigt, gilt es doch in wirtschaftlichen Krisen - wie sie Ernst Leitz mehrfach erlebt hat - mehr soziales Gewissen zu zeigen und Entlassungen so weit wie möglich durch besondere Marketing­aktivitäten und Innovationsanstrengungen zu vermeiden ohne jedoch die Existenz des Unternehmens zu gefährden.

Nicht die kurzfristige Gewinnerzielung, die im Zeitalter des shareholder value im Vordergrund steht, war für ihn wichtig, sondern die langfristige Absicherung des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze. Die Vorstellung, durch Kauf von Unternehmen schneller zu wachsen, war Ernst Leitz fremd. Das Wachstum sollte im Unternehmen selbst durch ein breites Programm und neue Produkte generiert werden. Dabei spielte die Innovationskultur, wie sie von Leitz gepflegt wurde, eine große Rolle. Sie war ganz auf Kundenorientierung aufgebaut und gab den Wissenschaftlern und Konstrukteuren des Unternehmens genügend Freiräume zur Verwirklichung neuer Ideen. Die Motivation seiner Mitarbeiter war für ihn besonders wichtig. Er wusste, dass Menschen nur dann zu großen Leistungen fähig sind, wenn im Unternehmen ein gutes Betriebsklima herrscht. Dazu gehört nicht nur eine weitgehende Sicherheit des Arbeitsplatzes, sondern auch das persönliche Engagement des Unternehmers für die Belange seiner Mitarbeiter. Es genügt eben nicht, Hochglanzbroschüren über „Human Relations“ zu verteilen und diese in Workshops zu diskutieren. Das sogenannte „Wir-Gefühl“ entsteht nur, wenn die Belegschaft weiß, dass die Unternehmensleitung stets ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte hat.

Auch wenn die meisten Unternehmer meinen, keine Zeit für öffentliche Ehrenämter zu haben oder sich für eine politische Partei einzusetzen, so hat sich Ernst Leitz trotz großer Arbeitsbelastung als Stadtverordneter und als Kandidat der Deutschen Demokratischen Partei engagiert. Auch in dieser Hinsicht kann er für heutige Unternehmer Vorbild sein.